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"Ich opfere nichts" Interview zum Thema "Glück" mit John Neumeier

Geführt von Monika Goetsch

Wenn er arbeitet, fühlt er sich dem Leben ganz nah - der große Mann des Balletts. Und spricht über das Glück, tanzen zu können

Was bedeuten Ihnen Träume?

John Neumeier: Ich träume gern. Auch meine Choreographien sind Träume. Träume erzählen immer von Fragen. So wie die menschlichen Dramen, die ich inszeniere. Der Zuschauer spürt die Angst, das Glück, die Verlorenheit, er ist bewegt. Aber was das bedeutet, woher die Geschichte kommt und wie sie endet, weiß er nicht. Ich denke, gutes Ballett ist so. Es zeigt Gefühle, ohne sie zu erklären. Weil nur Worte präzise Informationen liefern können.

Sind Träume für Sie wirklicher als die Wirklichkeit?

Neumeier: Sie sind nicht wirklicher. Sie sind eine Form der Wirklichkeit.

Haben Sie einen tieferen Umgang mit dem Leben, weil Sie sich auf Ihre Träume und Gefühle besinnen?

Neumeier: Das kann ich nicht sagen. Die Träume gehören einfach zu mir. Was wichtiger und tiefer ist, weiß ich nicht.

Worin sind Bewegung und Tanz der Sprache überlegen?

Neumeier: Bewegung ist die Basis des Lebens. Wir alle bewegen uns ständig. Das Blut bewegt sich, die Organe sind in Bewegung und halten uns so am Leben, durch den Atem entsteht Bewegung. Und es gibt Bewegungen, die von Gefühlen bestimmt sind. Zum Beispiel die Bewegung, die ich mache, wenn ich Angst habe oder nervös bin oder glücklich. Diese Bewegungen sind Zeichen für Gefühle. Keiner springt in die Luft, wenn er unglücklich ist. Der Tanz überträgt diese Gefühle und Bewegungen. Ist er gut, erkenne ich etwas von mir selbst, meinen Gefühlen und Sehnsüchten.

Und warum ist Ihnen wichtig, sich zu reflektieren?

Neumeier: Weil mir Essen, Trinken und Besitz nicht genügen. Ich habe eine Sehnsucht nach etwas anderem. Tanz informiert nicht wie eine Zeitung, aber er zeigt die Möglichkeiten eines Menschen auf. Wenn ich ein tanzendes Kind sehe, bin ich bewegt. Weil ich denke: Wie wunderbar kann der Mensch sein!

Ist Schönheit für Sie Trost?

Neumeier: Auf jeden Fall. Aber ich mache auch negative, destruktive Stücke. Mein Ballett "Sacre" beginnt damit, dass Menschen gehen. Gehen gehört zu den einfachsten und schönsten Bewegungen eines Menschen. Am Ende haben die Menschen das Gehen verlernt. Der Tanz erzählt die Geschichte dieser Zerstörung.

Aber auch die Choreographie einer Zerstörungsgeschichte ist tröstlich. Weil es beruhigt, das Schreckliche schön erzählt zu sehen.

Neumeier: Das glaube ich auch.

Wie würde dagegen das Glück getanzt aussehen?

Neumeier: Man kann vor Glück tanzen. Wenn ich meinen Schülern eine gute Nachricht überbringe, schweben sie aus dem Zimmer. Sie sind glücklich und bewegen sich glücklich. Würde man mich beauftragen, einen Glückstanz zu erfinden, wäre das etwas völlig anderes. Ich hätte nicht die Freiheit zu schweben. Erwartungen wären an mich gerichtet. Ich würde den Tanz auch für andere machen.

Wie ginge das vor sich?

Neumeier: Ich würde versuchen, tief in mir ein Glücksgefühl zu erinnern und wieder zu fühlen und es dann wie Ton zu formen. Um das, was dann geschähe, in Worten zu erklären, müsste ich Dichter sein. Sonst klingt es kitschig.

Ist das nicht riskant: Ganz ohne Distanz in ein Gefühl zu versinken?

Neumeier: Ja. Man muss tatsächlich riskant und gefährlich leben, um zur Kunst zu kommen. Aber im Ballettsaal gehört das Freilassen von Gefühlen zur Probe. Durch beständiges Wiederholen und Verändern erhalten sie ihre Form.

Dann kommen Strenge und Selbstdisziplin.

Neumeier: Genau. Wenn ich etwas kreiere, gibt es vier Phasen. In der ersten Phase sage ich "ja" zu einer Idee. In der zweiten Phase frage ich mich, wie ich die Idee realisieren kann, ich lese, recherchiere, informiere mich und habe große Zweifel, ob es gelingt. In der dritten Phase vergesse ich alles, was ich gelesen habe, und tue etwas rein instinktiv, zusammen mit der Musik. Und dann kommt die vierte Phase, in der ich mir das Projekt anschaue und es schrecklich finde - eine selbstkritische Phase, in der man mit dem Intellekt korrigiert.

Und in welcher dieser Phasen setzt Ihr persönliches Glücksgefühl ein?

Neumeier: Vor allem in der ersten Phase und in der dritten. Zunächst klingt die Idee toll und ist dabei noch zu weit weg, um gefährlich zu sein. So muss es sein, wenn man gerade erfahren hat, ein Kind zu bekommen: Alle Schmerzen sind noch fern, die Vorfreude ist groß. In der dritten Phase - beim Kreieren, wenn ich tanze - spüre ich, wie etwas aus meinem Inneren kommt, ich weiß nicht, wie und woher, aber auf einmal ist es da wie ein Kind bei der Geburt. Das ist großartig.

Großartiger als der Applaus danach?

Neumeier: Viel großartiger. Weil alles in der dritten Phase so ist, wie es ist. Grenzenlos und gegeben und da. Ohne Zuschauer, nur für die Tänzer. Danach zweifelt man wieder, will etwas ändern, vergleicht. Aber die dritte Phase ist das größte Glück.

Treibt sie Ihre Arbeit an?

Neumeier: Unbedingt. Aber auch meine Compagnie treibt an, die Menschen, die gleiche Ziele haben. Für mich ist außerdem die Schule, die ich gegründet und aufgebaut habe, ein Glück. Kürzlich haben die Schüler eine Vorstellung gegeben. Und als ich sie sah, so eigen als Künstler, war ich glücklich. Die Schule ist das Resultat vieler Jahre, Gedanken und Entscheidungen. Aber auf einmal waren all diese Gedanken und Entscheidungen wie weggewischt, da war nur das Ergebnis: die tanzenden Schüler. Das ist Glück.

Weil Sie eine Welt geschaffen haben.

Neumeier: Ja.

Wie eine Choreographie.

Neumeier: Ja. Allerdings klappt nicht jede Choreographie. Das ist wie bei der Ernte. Manche Jahrgänge sind gut, andere weniger.

Sie arbeiten für die Schule, sie arbeiten für die Bühne. Was opfern Sie?

Neumeier: Nichts.

Gar nichts?

Neumeier: Für mich ist Arbeit das intensivste Lebensgefühl. Darum opfere ich nichts. Natürlich gefällt es mir hin und wieder, Urlaub zu nehmen und zu schauen und zu lesen und Zeit für Beziehungen zu haben, die mir wichtig sind. Aber in der Arbeit bin ich dem Leben näher.

In einem Interview haben Sie gesagt: "Ich kämpfe gegen die Zeit, und es wäre mein größter Wunsch, so zu verbrennen."

Neumeier: Ja. Weil ich mir das langsame Ausgehen des Feuers schwer vorstellen kann.




»Gleichgültigkeit ist schrecklich. Ich weiss nicht, wie es sein wird, irgendwann müde zu werden«

Den Abstand und die Gleichgültigkeit.

Neumeier: Genau. Gleichgültigkeit ist schrecklich. Ich weiß nicht, wie es sein wird, irgendwann müde zu werden. Aber ich spüre schon jetzt, dass sich mein Lebensgefühl geändert hat. Kürzlich habe ich die Matthäuspassion getanzt. Das war sehr anstrengend - und vom technischen Können her fehlte vielleicht einiges. Trotzdem tanze ich wahrscheinlich heute besser, weil ich souveräner bin. Intensiv war es auch. Und ich wünsche mir, dass die Intensität bleibt. Weil sie mich glücklich macht. Ich fühle mich noch nicht so alt, wie ich bin.

Können Sie sich vorstellen, Ihren Körper zu mögen, wenn er schwach wird?

Neumeier: Damit habe ich kein Problem. Ich liebe meinen Körper. Er war so gut und so tapfer, obwohl ich ihn immer misshandelt habe. Ich habe keine Aggression gegen das Älterwerden. Manches daran ist sehr schön. Man weiß mehr, auch wenn man weiß, dass man gar nichts weiß. Man hat einen Überblick und eine Weisheit, die Ruhe gibt.

Auch eine Weisheit des Körpers? Oder zerfällt der Körper, bevor er weise ist?

Neumeier: Ich glaube, der Körper hat eine Weisheit. Er weiß, was er tun und was er unterlassen soll. Und auch ein älterer Körper ist sensibel.

Nicht nur für den Schmerz.

Neumeier: Auch für die Bewegung.

Sie sind ein gläubiger Christ. Glauben Sie an ein ewiges Leben?

Neumeier: Ja.

Haben Sie ein Bild davon? Vielleicht das eines Tanzes?

Neumeier: Nein. Tanz ist mein Beruf. Aber ich tanze nicht mein Leben. Ich glaube, dass das Leben nach dem Tod weitergeht. Aber wie dieses Leben nach dem Tod ist, weiß ich nicht. Ich habe auch keine Idee davon.

Keinen Traum?

Neumeier: Nein.

Das Gespräch führte

Monika Goetsch
für das allgemeine deutsche Sonntagsblatt in einer Reihe zum Thema Glück. HIER zum Originalartikel


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