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Genuss und Philosophie : Gedankliche Umkreisungen von Matthias Oberländer
Matthias Oberländer, Jahrgang 1961 und "gelernter Philosoph", umkreist die nicht unproblematische Beziehung zwischen Philosophie und Genuss und nimmt uns parallel zu den nächsten 3 Genusslettern mit auf Wege und Trampelpfade zu Fragen, die er sich zum Genießen gestellt hat.


Philosophie und Genuss 2 - Systematisches

Philosophiegeschichte ist eine Sache: Sie zeigt die Entwicklung philosophischer Thesen und Gedanken in ihrer zeitlichen Abfolge, immer vor dem Hintergrund der „großen“ gesellschaftlichen Ereignisse und Strömungen. Bekanntlich ist die Philosophie ja stets ein „Kind ihrer Zeit“. Was den Genuss angeht, lässt sich eine negative, abwertende Grundhaltung der abendländischen Philosophie erkennen.

Systematisch vorgehen heißt andererseits, ein Ding begrifflich zu bestimmen, bis es eben begriffen ist. Ich begnüge mich mit einigen ersten Gedanken, die vielleicht einen Aufschluss darüber geben, was Genuss sein könnte, und beschränke mich auf Reflexionen über den Genuss im eminenten Sinn, so wie er etwa der von Artediem vertretenen Genusskultur zugrunde liegen mag.

Ein Versuch, diesen Genuss materialiter zu bestimmen scheint aussichtslos. Über die Zeiten hinweg, hat sich das, was die Menschen als genießenswert betrachtet haben, sicherlich geändert, wenn auch grundsätzliche (und hier nicht weiter aufzuführende) Freuden immer dieselben geblieben sind. Für die Intensität des Erlebens mag Ähnliches gelten. Aber auch heute, in unserer globalisierten Welt, fällt es schwer, Gegenstände ausfindig zu machen, die alle Menschen von Tokio bis Wanneeikel gleichermaßen für besonders genießenswert erachten: Bei Affenhirnen als kulinarischer Delikatesse hört der Spaß für die meisten Mitteleuropäer vermutlich auf, während er bei subtil aromatisiertem Mineralwasser für den chinesischen Bauern womöglich gar nicht erst anfängt.

Erfolgversprechender scheint mir eine formale Bestimmung. Natürlich reden wir hier nicht davon, dass jede mit Freude verbundene Empfindung prinzipiell als Genuss bezeichnet werden kann, und auch nicht vom Genuss immaterieller Dinge, wie z. B. der Freiheit, dem Genuss staatlicher Fürsorge etc. Hat Genuss nicht immer etwas mit der bewusst gewollten Entfaltung möglichst komplexer sinnlicher Eindrücke zu tun? Mag sein. Eine edle Zigarre mag eher zu genießen sein, als eine profane Zigarette. Wie aber steht es um einen leichten, quirligen Prosecco im Vergleich zu einem schweren, bukettreichen Wein?

Ich schlage vor, Genuss stattdessen unter dramaturgischen Gesichtspunkten zu verstehen: Dramaturgie der Aneignung. Eine zentrale Kategorie in diesem Zusammenhang ist die Zeit. Genuss arbeitet mit Spannung, was angelsächsische Autoren „Suspense“ nennen. Wie bei einem spannenden Krimi erwarten wir beim Genießen, dass sich unsere Empfindung langsam zu einem Höhepunkt steigert (auch wenn wenn wir das Ergebnis bereits kennen mögen).

Was wir genießen, eignen wir uns mit einem besonderen Zeitmaß an. Ja, wir stellen die Dinge geradezu auf den Kopf, wenn wir dem Genuss die Dauer geben, die er bis zu seiner Vollendung braucht, und nicht wie sonst, messen, wie schnell wir eine gegebene Aufgabe (etwa den Verzehr eines fünf-Gänge-Menüs) erledigen können. Genießer zelebrieren.

Nur indem wir uns und dem zu genießenden Ding (was immer es sein mag), Zeit geben, seine sinnlichen Qualitäten zu entfalten (egal welche es sind) und auf uns möglichst intensiv zu wirken, genießen wir. Eile, Hast, Unaufmerksamkeit mögen unseren von ökonomischen Zwängen bestimmten Alltag beherrschen; aus dem Reich des Genusses sind sie verbannt. In diesem Sinn ist Genuss gelebte Anti-Ökonomie: Gilt dort, mit möglichst geringem Zeitaufwand eine größtmögliche Wirkung zu erzielen, herrscht hier ein unverkennbarer Hang zur individuellen Ent-Schleunigung, ja zur Verschwendung von Zeit.

Das zweite dramaturgische Element ist die Atmosphäre. Um uns genussbereit zu machen und zur Verstärkung unserer Empfindungen, schaffen wir uns ein Bühnenbild, ein Setting, in dem wir den eigentlich profanen Akt unserer Aneignung stattfinden lassen, inszenieren.
Zum nächsten Kapitel



Mit Lust denken
 

Philosophie und Genuss 1 - eine problematische Beziehung 


Philosophie und Genuss 2 - eine systematische Annäherung 


Philosophie und Genuss 3 - eine Ethik des Genusses? 


Genuss als Geographie der Entäußerung - Gedanken von Karin Schlechter