Mit Lust Denken
 

Philosophie und Genuss 1 - eine problematische Beziehung 


Philosophie und Genuss 2 - eine systematische Annäherung 


Philosophie und Genuss 3 - eine Ethik des Genusses? 


Genuss als Geographie der Entäußerung - Gedanken von Karin Schlechter 




























Eine Befragung des Textes zur Genussphilosophie von Matthias Oberländer von Karin Schlechter. Karin Schlechter ist bildende Künstlerin und Performerin in Köln. Ihr Atelier für ästhetische Bildung, die SCHULE DES BEGEHRENS, ist gerade in Gründung. Aus der Sicht der Künstlerin befragt Karin Schlechter das Genießen - auch im Hinblick auf die philosophischen Gedanken zum Thema von Matthias Oberländer.
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Über das Genießen. Eine aisthetische Landvermessung

Mit allen Sinnen genießen: Das ist der Schrecken eines jedes Stoikers. Der lässt sich weder im größten Schmerz noch in der größten Lust etwas von leidenschaftlicher Bewegtheit anmerken. Im Denken der Metaphysik geht es schließlich um den Aufstieg vom Sinnlichen hin zum Übersinnlichen, also wenn man so will: von der Ästhetik zur An-ästhetik. Daher hat Nietzsche diesen Typus des Metaphysikers wohl auch als „vollkommenen Hornochsen“ bezeichnet. Er meinte, bildlich gesprochen, den Panzer des stoischen Menschen, der ihn gegen innere und äußere Affekte schützen soll.

Die Moderne hingegen will mit der Rede gegen Sinnlichkeit und Genuss nichts mehr zu tun haben. Die metaphysische Denkfigur dreht sich in ihr Gegenteil, volles Menschsein ist nur durch vollendete Ästhetisierung der Gesellschaft zu erreichen. Dieses ästhetische Phantasma entwickelt beispielsweise eine Wagnersche Idee des Gesamtkunstwerks oder eine Durchgestaltung der Gesellschaft im Sinne der Bauhausbewegung. Das zeigt sich noch in der Architektur des Sozialen Wohnungsbaus der 70er Jahre und heute im Facelifting der gigantischen Konsumtempel und Freizeitparks. Das Phantasma der gesamtgesellschaftlichen Ästhetisierung ist längst in sein Gegenbild gekippt. „Erlebniskultur“ entlarvt sich als Euphemismus für An-ästhetisierung, als Anästhesie des Geistes und der Sinne.

Nun kann die zeitgenössische Kunst uns helfen, alte Sehgewohnheiten aufzuschließen und unsere Wahrnehmung (Aisthesis), unsere sinnlichen und geistigen Erlebnisorgane zu entfalten. Das hat mit Innewerden, Gewahrwerden und Merken zu tun, also einer Entwicklung eines Wirklichkeitssinnes, der Voraussetzung für die Fähigkeit ist, genießen zu können. Aktuelles ästhetisches, aisthetisches Denken fragt nach der Struktur von Phänomenen, beschäftigt sich mit Figuren der Verflechtung, der Divergenz und des Umschlagens, z.B. mit der Doppelfigur von Ästhetik/Anästhetik. Wenn von der Ästhetik des Genießens oder des Gesangs oder des Autofahrens gesprochen wird, denken und sprechen wir die Bewegung der Dinge als solche. Bedeutungen kommen so ins Gleiten, und manchmal stolpern sie auch über sich selbst.

In seinem artediem-Beitrag zu Philosophie und Genuss schlägt der Philosoph Matthias Oberländer unter anderem vor, den Genuss unter dramaturgischen Gesichtspunkten zu verstehen: Er nennt das die Dramaturgie der Aneignung. Die Denkfigur der Dramaturgie ist eine ästhetische: sie gibt dem Genuss ein Bühne, inszeniert dort bewusste Genießer, die zelebrierend ihre Zeit verschwenden, weil sie unendlich genießen wollen. Der Begriff der Aneignung impliziert nun jedoch eine gewisse libidinöse Ökonomie. Matthias Oberländer spricht zwar von Anti-Ökonomie und der Intensität des Genießens, aber: was meint Aneignung wörtlich? Etwas haben, abhaben, jeder will etwas davon haben, es gibt Leute, die etwas Lebendes haben wollen, andere wollen etwas Bildhaftes, etwas Kleidung, etwas Prestige, vielleicht die ganze Welt... Eine Inszenierung, die um den Fetisch kreist, nach dem zu greifen wäre, der solange zu begreifen wäre, bis er eben begriffen ist... Richtet sich das Genießen innerhalb einer Dramaturgie der Aneignung auf das Haben-Wollen, um Sein zu können?

In Anlehnung an den Begriff von Matthias Oberländer möchte ich eine zweite, andere Ökonomie des Genießens vorschlagen: eine Geographie der Entäußerung. Genießen verändert seine ökonomischen Bedingungen dann, wenn es mit einem schöpferischen Prozess in Verbindung steht. Anders als der Genuss, der ein Objekt braucht, um es einzunehmen und zu vereinnahmen, verausgabt das schöpferische Erlebnis das Objekt und verwandelt es in Räume, Dimensionen.

So verstanden ist Genießen eher Hingabe an etwas als Dramaturgie oder In-Szene setzen von etwas. Eine Entäußerung an eine unbekannte Landschaft, die sich selbst in uns hervorbringt. Autopoiese. Wir entäußern uns, verausgaben uns, geben die Gabe aus, wenn wir uns selbst auf´s Spiel setzen, und dafür bekommen wir etwas geschenkt... Teilhabe am Schöpferischen als ein zutiefst subjektives und anarchistisches Leiden, Dulden und Genießen. Ein Abenteuer, eine Ent-setzung, die uns zustößt und unser Innenleben ungewöhnlich anregt.

Auf`s Spiel setzt sich auch der Abenteurer Odysseus, wie der griechische Dichter Homer berichtet. Bekanntlich trifft er auf seiner Reise die Sirenen, die kunstvollen Sängerinnen. Um nicht vor Sehnsucht nach ihnen an ihrem Felsen zu zerschellen und unterzugehen, verstopft er sich nicht wie seine Ruderer die Ohren, sondern gibt seinem Genuss einen haltenden Rahmen, eine Halterung: er läßt sich an den Schiffsmast binden und lauscht so dem Gesang der Sirenen, der gebundenen Rede, der Kraft der Poesie: Als Ent-setzter nimmt er das Unbegreifliche, das Unerreichbare wahr...

Gebundene Rede scheint mir die Sprache des Genießens innerhalb einer Geographie der Entäußerung zu sein: zuallererst Rhythmus, vielleicht Stimmfiguren, die beweglich miteinander verflochten sind. Vielleicht auch ein im Entstehen begriffenes Spiel, ein wiederholtes Aufgreifen der Maschen, der Muster und Differenzen. Also ein Anknüpfen ans Verhältnismäßige, Beziehungsweise... Odysseus läßt sich jedenfalls binden, weil er klug ist: an den Mast des Schiffes gefesselt offenbart sich ihm in der größten Verzweiflung gleichzeitig die äußerste Lust: der leidenschaftliche Genuss desjenigen, dem es um wahre Empfindungen geht.


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Kontakt: SCHULE DES BEGEHRENS - Atelier für ästhetische Bildung und Praxis, Karin Schlechter, Neusserstr. 569, 50733 Köln, fon: 0221 - 5348575