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Der Glücksmuskel

Glücksinterview
mit Alfred Bellebaum

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1990 gründete der Soziologe Alfred Bellebaum das Institut für Glücksforschung. Lernen Sie in dem Interview mit Monika Götsch einen Glücksforscher kennen, der neugierig dem ersehntesten aller Zustände auf der Spur ist und sich an der Wissenschaft freut.

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»Was man besitzt, verliert den Reiz«

Ein Interview mit dem Glücksforscher Alfred Bellebaum
VON MONIKA GOETSCH


Was passiert eigentlich mit dem Glück, wenn Sie es wissenschaftlich zu fassen suchen?

Alfred Bellebaum: Es erhellt sich. Meine Frage lautet: Wer weiß was mit welcher Begründung und welchen Folgen über Glück? Die unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen antworten. Das Material fällt einem nur so zu.

Können Sie die Antworten zu einem Gesamtergebnis zusammenschließen? Oder sprechen der Hirnforscher und der Psychologe und der Philosoph von etwas völlig Verschiedenem?

Bellebaum: Ob es eine generelle Theorie des Glücks geben kann, weiß ich nicht. Ich bezweifle es. Zusammenführen kann man die einzelnen Disziplinen schon. Wie das Gehirn Glücksgefühle herstellt, ist eine Sache. Welche Glücksvorstellungen jeweils vorherrschen, ist eine andere. Eine Biologie des Glücks erledigt eine Soziologie des Glücks durchaus nicht!

In welcher Glücks-Zeit leben wir denn heute? In einer der Lustbefriedigung?

Bellebaum: Achtzig Millionen Deutsche kann keiner über einen Kamm scheren. Darum wäre es vermessen zu sagen, die moderne Gesellschaft sei von nur einer einzigen Glücksvorstellung geprägt.

Aber über die vorherrschende Glücksvorstellung lässt sich reden.

Bellebaum: Ja. Gerhard Schulze tut das in seinem keineswegs kritiklos gebliebenen soziologischen Bestseller "Erlebnisgesellschaft". Erlebnisorientierung, sagt Schulze, sei die unmittelbarste Form der Suche nach Glück. Selbstverständlich existieren auch für ihn verschiedene Formen der Glückssuche nebeneinander: der Dienst am Nächsten zum Beispiel oder religiöse Erlösungsvorstellungen. Aber die Erlebnisorientierung sei vorherrschend. Gerade diese Form der Glückssuche hält er allerdings auch für problematisch.

»Die Geschichte ist voll von Beispielen gähnender Langeweile«

Schließen Sie sich ihm an?

Bellebaum: Ich habe fünf Jahre lang Material zum Thema Langeweile gesichtet und ein Buch darüber geschrieben. In der Literatur und der ganzen Menschheitsgeschichte finden sich schreckliche Beispiele gähnender Langeweile. Aber früher war Langeweile ein Vorrecht der besseren Stände. In der modernen Gesellschaft spricht man von einer Demokratisierung der Langeweile. Langeweile ist in allen Schichten anzutreffen. Fast jeder streitet ab, mit Langeweile etwas zu tun zu haben. Wer Langeweile kennt und davon spricht, funktioniert nicht so, wie es die Gesellschaft will.

Die Orientierung an Erlebnissen hat mit dieser Langeweile zu tun?

Bellebaum: Ja. Ich schließe mich Schulzes These an. Erlebnisorientierung kann problematisch sein. Was man besitzt, verliert leicht seinen Reiz. Darum - und das ist keine billige Kulturkritik - jagen viele immer stärkeren Genüssen hinterher. Man geht heute nicht mehr einkaufen, sondern erlebniskaufen. Man geht auch nicht mehr schwimmen, sondern ins Erlebnisschwimmbad, aber die Freude und das Glück sind nicht von Dauer. Trotzdem warne ich vor allgemeinen Aussagen über die moderne Gesellschaft.

Es wird ja schon lange über Glück nachgedacht. Ist man heute schlauer?

Bellebaum: Von der Antike über das Alte Testament und die Philosophie der Neuzeit bis hin zum heutigen Tag gibt es eine Übereinstimmung in zumindest zwei Fragen: darin, dass der Mensch nach Glück strebt. Aristoteles brachte das auf die kurze Formel: Alle Menschen möchten glücklich sein. Und darin, dass Glückserlebnisse zeitlich begrenzt sind. In diesen Einsichten sind wir nicht weiter als früher.

Taugt das für eine Definition?

Bellebaum: Ich definiere das Glück nicht. Für mich ist Glück das, was sich Menschen unter Glück vorstellen. Aristoteles verstand unter Glück eine vernunftgemäße Lebensweise. Das hat aber mit dem Glück der Psychotikerin, die nach einem Klinikaufenthalt erstmals ihr Kind wieder sieht, nicht das Geringste zu tun! Es gibt so unterschiedliche individuelle und gesellschaftlich vermittelte Glücksvorstellungen, dass alle Versuche, zu einer verbindlichen Definition zu kommen, fehlschlagen müssen.

Macht sich der normale Mensch überhaupt Gedanken über das Glück?

Bellebaum: Systematisch wahrscheinlich nicht. Jedenfalls sind die meisten Menschen verblüfft, wenn sie hören, dass ich Glücksforschung betreibe. Sie reflektieren nicht darüber, aber sie haben ein Gespür, das ihnen sagt, ob sie glücklich sind oder bloß zufrieden, gern gesund wären oder ein Lebenspartner fehlt.

Sie haben das Institut vor neun Jahren gegründet. Glauben Sie, dass die Glücksforschung die Jahrtausendwende überlebt?

Bellebaum: Wenn die Suche nach Glück zum Wesen des Menschen gehört, wird Glück immer Thema sein. Ob das Stichwort Glück dabei fällt, ist eine andere Frage. Schon Kant hielt den Terminus Glück für einen unbestimmten, inhaltsleeren und darum unbrauchbaren Begriff. In neuerer Zeit sprechen manche Disziplinen statt von Glück lieber von Wohlbefinden, Zufriedenheit und Lebensqualität. Letztlich geht es aber doch um Variationen von Glück.

Zum Beispiel?

Bellebaum: Das gilt zum Beispiel für das Konzept der klassenlosen Gesellschaft. Dieses Konzept lebt ja von der Vorstellung, dass es Defizite gibt, die abgeschafft werden müssen, weil sie viele Menschen daran hindern, ein glückliches Leben zu führen. Und Theologen geht es um Glück, wenn sie vom jenseitigen Heil sprechen. Davon abgesehen ist über Glück mal mehr, mal weniger intensiv nachgedacht worden. In den sechziger und siebziger Jahren bis in die Mitte der achtziger hinein war es um das Glück stiller als heute.

Weil ein Ernsthaftigkeitspathos regierte. Es ging um Kritik statt um Affirmation.

Bellebaum: Das Ernsthaftigkeits- und Leidenspathos war weit verbreitet. Es hat wohl mit den Kriegen und Auschwitz zu tun. Kaum einer dachte daran, sich mit dem Glück zu beschäftigen. Als mein Institut gegründet war, erhielt ich viele Briefe, in denen es hieß: "Endlich einmal jemand, der nicht über die Trostlosigkeit dieser Welt klagt!" Eine ganze Menge Mode ist insofern dabei. Aber man muss unterscheiden zwischen Naturwissenschaftlern, die sich jahrzehntelang einem Problem stellen, bis sie es gelöst haben, und Geisteswissenschaftlern, denen hin und wieder ihre Themen ausgehen.

Sind die Ergebnisse der Wissenschaft in die Alltagspraxis übersetzbar?

Bellebaum: Viele suchen Ratschläge, wie man glücklich wird. Ich kann mit solchen Ratschlägen nichts anfangen. Vielleicht wäre es interessant, sie mal wissenschaftlich zu untersuchen. Es gibt ja Psychologen, die Lebensberatung anbieten, und Philosophen, die Akademien unterhalten, wo für viel Geld antike Philosophie studiert wird. Mit dem Ziel, den Studenten beizubringen, dass ein Lottogewinn nicht unbedingt weiterhilft. Schon Epikur vertrat die These, dass Glück zugleich Verzicht bedeutet. Wenn jemand den Wein liebt und die gute Unterhaltung, vom Wein aber müde wird, muss er sich halt entscheiden. Aber das ist nicht immer so einfach.

»Ich liebe die Variation. Und ich geniesse die Freiheit der Wissenschaft«

Statt Ratschläge zu geben, gucken Sie das Glück lieber an.

Bellebaum: Ja. "Anything goes." Alles ist erlaubt. Besonders inte-ressant finde ich allerdings Glücksgefühle und Glücksvorstellungen, die nicht erlaubt sind. Tabuisierte Glücksgefühle. Wenn man - was gewagt ist - Glück und Lust gleichsetzt, gibt es ja Menschen, die eine unbändige Lust haben, Frauen zu vergewaltigen oder kleine Kinder. Hier hört "anything goes" natürlich auf.

Und wie wichtig ist Ihnen das Thema selbst?

Bellebaum: Früher habe ich eine Einführung in die Soziologie geschrieben, eine Soziologie abweichenden Verhaltens, Schulbücher und Bücher über Langeweile und Schweigen und Abschiede. Jetzt ist das Glück dran. Ich liebe Variationen. Mein Hauptinteresse gilt allemal den Alltagsphänomenen. Ich frage mich, was völlig unspektakulär mit und zwischen Menschen geschieht.

Was ist denn das Beglückende an der Wissenschaft? Die Leichtigkeit und Distanz, die man durch sie gewinnt?

Bellebaum: Bei mir ist das so, ja. Ich genieße die enorme Freiheit, tagaus, tagein über Dinge nachdenken zu können, zu denen andere keine Zeit haben. Außerdem macht es Spaß, auf etwas Neues zu kommen. Das ist das kleine Glück. Wenngleich die Unterscheidung zwischen großem und kleinem Glück wieder lange Diskussionen auslösen könnte. Eigentlich lehne ich die Vorstellung vom kleinen Glück ab. Wenn einer glücklich damit ist, abends zwei Flaschen Bier vor dem Fernseher zu trinken, gut! Ich lasse den Leuten ihre Wünsche. Man kann den Begriff des Glücks ruhig ein bisschen tiefer hängen als üblich.

Weil man unter dem hochhängenden Glück hindurchspaziert.

Bellebaum: Man kommt im Allgemeinen einfach nicht dran. Die Freude über den blühenden Schrebergarten und das vergnügliche abendliche Zappen nach des Tages Last und Mühe: Das sind völlig undramatische Erlebnisse. Aber so ist das eben. Die wenigsten Menschen haben die Möglichkeit, mehr zu erleben. Wenngleich heutzutage immer mehr Menschen die Möglichkeit haben, mehr zu erleben, als zu meiner Zeit üblich war.

Sie wissen ja, dass jedes Wissen begrenzt ist. Wie gehen Sie damit um?

Bellebaum: Ich habe für mich eine Position gefunden, die mich sehr zufrieden stellt: Ich weiß oder glaube zu wissen, dass die Dinge nicht so sein müssen, wie ich meine, dass sie sein müssten. Erkenntnistheoretisch ist mir der sogenannte, durchaus kritisierbare Kritische Rationalismus sympathisch. Vernunft, lehrt diese Theorie, ist fehlbar. Wer so denkt, kann kein Wahrheitsfanatiker sein. Er wird niemals für die Ausmerzung Andersdenkender eintreten.

Was bedeutet das für Ihren Umgang mit anderen?

Bellebaum: Wenn mir ein Theologe sagt, es gibt einen Himmel, antworte ich: Kann sein. Und wenn einer behauptet, in der klassenlosen Gesellschaft lebe es sich am besten, antworte ich das Gleiche. Mit dieser Einstellung kann man übrigens andere verrückt machen. Aber das will ich natürlich gar nicht. Zum Glück habe ich wenig mit Menschen zu tun, die für ihre Überzeugungen rücksichts- und mitleidslos gegenüber ihren Mitmenschen auf die Barrikaden gehen. Wobei es wiederum Dinge gibt, für die auch ich auf die Barrikaden ginge. Meine Haltung ist einfach so: Ich weiß manches, aber vieles nicht.

Quält das manchmal?

Bellebaum: Das kann auch quälend sein. Es quält vor allem Menschen, die ein starkes Bedürfnis nach Sicherheit haben. Mir gelingt es bislang, deswegen nicht unglücklich zu sein. Als Kardinal König an seinem 90. Geburtstag sagte, Wahrheit sei in allen Religionen, habe ich gestaunt. Bis mir ein Theologe erklärte, der Kardinal habe ja nur von Wahrheit, nicht von der Wahrheit gesprochen. Menschen, die behaupten, in wichtigen Lebensfragen die Wahrheit zu kennen, sind selten tolerant. Die abendländische Geschichte ist voll von barbarischen Glücksverheißungen, derentwegen Millionen gefoltert und massakriert worden sind.

Haben Sie einfach einen spielerischen Umgang mit Wahrheit und Wissen?

Bellebaum: Das kommt auf die Situation an. Manche Wissensbestandteile betreffen meine Lebensführung ganz existentiell. Damit kann ich nicht spielerisch umgehen. Die berühmt-berüchtigte Sinnfrage zum Beispiel. Die Frage stelle ich mir natürlich. Die christliche Antwort erscheint mir nicht allein beachtenswert. Mit anderen Wissensbestandteilen gehe ich ganz locker um.

Darf ich Ihnen nun die längst fällige Frage stellen: Sind Sie glücklich?

Bellebaum: Ab und an. Ja, natürlich. Wenn ich am Meer entlang gehe oder in den Bergen bin oder ein gelingendes Interview erlebe. Doch. Das ist sehr angenehm. Nicht stetig. Das Glück sei ein Windhauch, heißt es schon bei Kohelet im Alten Testament.

Das Gefühl ist evident. Ganz ohne Wissenschaft.

Bellebaum: Ja. Ich merke doch, wenn es mir gut geht. Vielleicht komme ich an einem solchen Tag mit der Arbeit an meinem Buch weiter. An einem anderen Tag nicht. Wer weiß, warum.



©DS - DEUTSCHES ALLGEMEINES SONNTAGSBLATT,

29. Januar 1999


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